Rezension Wolke 9: die Alltäglichkeit von Liebe im Alter
Regisseur Andreas Dresen geht mit „Wolke 9“ ein selten behandeltes Thema an: Liebe im Alter. Gelingt ihm das?
Das letzte Mal, dass ich in einen Film gegangen bin, bei dem ich im Vorfeld wusste, dass er ein Tabuthema behandelt, ist schon eine Weile her: „Brokeback Mountain“. Nun hat mich vor kurzem eine Anfrage von dot-friends.com erreicht, mir die Filme „Wolke 9“ und „Young@Heart“ kostenlos im Kino anzusehen, um darüber eine Rezension zu schreiben und diese dann in meinem Blog zu veröffentlichen. Die Aktion lief im Auftrag von Senator Entertainment, ist jedoch unabhängig von meiner Meinung zu den Filmen. Gestern habe ich mir also auch „Wolke 9“ angesehen, einen Film von Andreas Dresen, der in Cannes den „Coup de Coeur“ gewonnen hat, aber neben viel Licht auch Schatten wirft.
Der Stoff, aus dem der Film ist: eine Dreiecksbeziehung unter Rentnern
„Wolke 9“ behandelt eine Dreiecksbeziehung im Alter. Inge, eine Frau zwischen 60 und 70 Jahren, die seit 30 Jahren glücklich mit Werner verheiratet ist, verliebt sich Hals über Kopf in den fast 80jährigen Karl. Die beiden erleben ihre Liebe wie Teenager und treffen sich heimlich zum Sex, doch Inge plagen Schuldgefühle. Am Ende muss sie eine folgenreiche Entscheidung treffen zwischen ihrem Herzen und der Vernunft, bei ihrem Mann und ihrer Familie zu bleiben.
Wolke 9: ein Film zwischen mutigen Einstellungen, gelungener Ästhetik…
Dresen inszeniert diesen klassischen Stoff in einem ungewohnten Umfeld meisterhaft. Seine Schauspieler zeigen eine tolle Leistung: So blickt der Zuschauer in verliebte, alte Gesichter, die durch ihre Liebe um Jahre verjüngt wirken. Der Regisseur unterstützt das durch häufige Großaufnahmen der Gesichter und langsame Schnitte, die sich den Konventionen des schnelllebigen Kinos der 2000er Jahre verweigern. Denn es geht ihm um eine realitätsnahe Inszenierung des Stoffs: die Charaktere sind zu großen Teilen von seinen Schauspielern mit entwickelt worden, Improvisation spielte eine große Rolle bei den Aufnahmen. Mit Ausnahme einiger Szenen, in denen Inge im Chor singt, verzichtet der Film komplett auf musikalische Untermalung. Dresens Bilder sind wenig glamourös, aber dennoch wirkungsvoll: Mit filmischen Mitteln wie der beengten Wohnung und dem langsam tröpfelnden Kaffee schafft er eine Symbolisierung des langweiligen Ehe-Alltags von Inge und Werner, der leidenschaftlich gerne Zug fährt und sogar Platten mit Zuggeräuschen anhört, und kontert diese Einstellungen mit Karls Lebensfreude auf dem Fahrrad im Grünen. Mit wiederholten Dialogen illustriert er die Unterschiede der beiden Männer. Dresens Film ist unglaublich reduziert, nicht eine einzige Einstellung ist überflüssig. Seine Erzählweise ist elliptisch, lässt Entwicklungen offen, steigt unvermittelt ins Geschehen ein und geht ebenso unvermittelt wieder heraus.
An jedem Punkt der Geschichte haben wir überlegt, wie wir noch weiter verknappen können: Wir wollten der Fantasie des Zuschauers viel Freiräume geben, damit er dazwischenkommt mit seinen eigenen Erfahrungen und Assoziationen.
Andreas Dresen im Presseheft
Ebenso alltäglich ist sein Umgang mit der Nacktheit seiner Darsteller. Die Sexszenen sind ungeschönt, wirken dokumentarisch abgefilmt, die Körper entsprechen nicht im Ansatz heutigen Schönheitsidealen. Das Publikum im Kino reagiert auf diese ungewohnten Bilder mit verschmitzten Witzen und "Oh nein"-Kommentaren, als seien nackte ältere Menschen etwas grundsätzlich anderes als nackte junge Menschen. Auch im Alter hat Liebe einen körperlichen Aspekt: Das ist die Aussage, die sich durch den Film zieht wie ein roter Faden.
… und emotionaler Kälte
„Wolke 9“ lässt sich sicherlich nur sehr bedingt mit Ang Lees epochalem "Brokeback Mountain" vergleichen, denn die Produktionsbedingungen sind ebenso anders wie die Aussageabsicht. Dennoch zeigt der Vergleich eindrucksvoll, welcher Schritt Dresens Film nicht gelingt. „Brokeback Mountain“ sieht man mit dem Wissen, es sei ein Tabufilm über eine Liebe zwischen schwulen Cowboys – doch man verlässt ihn nicht mit diesem Gefühl. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass es ein Film über Liebe ist, der halt zwischen schwulen Cowboys spielt.
Es ist genau dieser Übergang, der Dresen nicht gelingt. Er schafft keine Empathie für seine Charaktere, kein Verständnis für ihre Situation und keine Emotionalität. Seine Dramaturgie ist geradlinig, seine Inszenierung wirkt distanziert bei aller Direktheit der Kamera, als ginge ihn der Film nichts an. Die Charaktere wirken wie realistische Menschen direkt aus dem Alltag, doch leider bleiben sie einem auch genauso fremd.
Fazit
Am Ende bleibt ein guter Film mit großartiger schauspielerischer Leistung und bravouröser Inszenierung, der den Zuschauer jedoch emotional kaum berührt. Man würdigt die kopfgesteuerten Leistungen des Films, entwickelt jedoch kein echtes Verständnis für die Charaktere. So kann Dresen auf das Thema aufmerksam machen und den Zuschauer auf die (auch körperliche) Alltäglichkeit von Liebe im Alter hinweisen. Wäre es ihm auch noch gelungen, dafür zu sensibilisieren, wäre es ein großartiger Film geworden.