Über die Bedeutung von Erlebnissen in der Experience Economy Warum die Experience für Unternehmen und Institutionen so wichtig ist
In Wirtschaft und Gestaltung fokussieren wir uns immer stärker auf das Erleben unserer Nutzerinnen und Nutzer, die Experience – ganz besonders im Digitalen. Warum ist das so? Dieser Artikel spürt dieser Entwicklung nach und beantwortet Fragen wie: Was ist der wirtschaftliche Wert von Experience? Was kennzeichnet Experiences? Warum sind Experiences gerade im Digitalen so wichtig? Und wie kann uns Experience bei der Gestaltung einer lebenswerten Zukunft helfen?
Erlebnisse im Fokus von Gestaltung und Wirtschaft
Die Idee, dass Erlebnisse oder Experiences von immer größerer Bedeutung werden, rückt seit etwas mehr als 20 Jahre nach und nach in unser Bewusstsein. Der Designprofessor Richard Buchanan (2001) hat Experiences als eine von vier Ordnungen von Design (Four Orders of Design) beschrieben. Jede Ordnung konzentriert sich auf einen anderen Aspekt der Gestaltung:
- In der ersten Ordnung beschäftigt sich Design mit Kommunikation in unterschiedlichen Medien, etwa Plakaten, Websites oder Magazinen (Kommunikationsdesign, Grafikdesign, visuelles Design, Webdesign).
- In der zweiten Ordnung geht es um Produkte in physischer oder digitaler Form (Industriedesign, Produktdesign).
- In der dritten Ordnung konzentrieren sich Designerinnen und Designer um die Gestaltung von Interaktionen, etwa zwischen Menschen und Technologie oder Dienstleistungen zwischen Menschen (Interaktionsdesign, UX-Design, Service-Design). In dieser Interaktion entstehen Erlebnisse. Erlebnisse sind keineswegs begrenzt auf Entertainment und Freizeitaktivitäten – auch Produkte und Services lassen sich mit einem Fokus auf das Erlebnis gestalten, das Menschen mit ihnen haben.
- Schließlich geht es in der vierten Ordnung um komplexe Systeme, etwa Organisationen, Bildung, Unternehmen oder Institutionen.
In diesen Ordnungen von Design bewegen wir uns von den Objekten der Gestaltung (und damit auch ihren Eigenschaften wie Form oder Farbe) hin zu ihren Auswirkungen. Damit einher geht die Frage, wie wir das, was wir gestalten, nützlich, nutzbar und erstrebenswert machen (Buchanan 2001, 2015).
Erlebnisse haben auch eine große wirtschaftliche Bedeutung. Einige Autoren sprechen sogar davon, dass wir in einer „Experience Economy“ leben. Dieser Begriff wurde 1998 von den Wissenschaftlern B. Joseph Pine II und James H. Gilmore in einem Artikel im Harvard Business Review beschrieben. In der Experience Economy betrachten Unternehmen und Institutionen die Experience als integralen Bestandteil ihres wirtschaftlichen Handelns mit dem Ziel, dass Menschen ein positives Erlebnis mit ihren Produkten oder Services haben, an das sie sich gerne erinnern.
An experience occurs when a company intentionally uses services as the stage, and goods as props, to engage individual customers in a way that creates a memorable event.
B. Joseph Pine II & James H. Gilmore (1998, 98)
Die Autoren sprechen von vier unterschiedlichen Angeboten, die Unternehmen ihren Kunden machen können:
- Rohstoffe (undifferenzierte, natürliche Angebote, beispielsweise Hopfen und Malz für das Brauen von Bier oder die Zutaten eines Menüs)
- Produkte (standardisierte, hergestellte Angebote, beispielsweise Bier oder verschiedene Fertigprodukte zum Kochen)
- Dienstleistungen (maßgeschneiderte Angebote durch Aktivitäten auf explizite Nachfrage, beispielsweise in einer Kneipe oder einem Restaurant, wo Bier und Essen serviert und ansprechend angerichtet werden)
- und schließlich Erlebnisse (erinnerungswürdige, persönliche Angebote, beispielsweise ein Tasting, das Bier und Essen vereint)
Experiences im Zentrum der Gestaltung
Aber was genau gestalten wir eigentlich mit einem Fokus auf Experiences? Erlebnisse haben eine Reihe von Besonderheiten im Vergleich zu den anderen Angeboten (Hassenzahl, 2010). Sie sind einprägsam und hochgradig persönlich. Dieser Fokus auf das Einprägsame erklärt, warum sich Forschung und Design bisher vorrangig auf außergewöhnliche Erlebnisse konzentriert haben (Becker & Jaakola, 2020), während normale, alltägliche Erlebnisse erst seit einigen Jahren stärker in den Fokus rücken (Clemmensen, Hertzum, & Abdelnour-Nocera, 2020; Meneweger et al., 2018). Erlebnisse umfassen außerdem sehr viele Dimensionen (etwa Emotionen, ästhetische Eindrücke oder psychologische Bedürfnisse) und lassen sich daher nur ganzheitlich verstehen. Sie hängen stark von Kontexten ab und sind dynamisch. Experience entsteht in der Interaktion mit unserer Umgebung, was auch digitale Produkte und Services beinhaltet (Buchanan, 2015). Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass wir Experiences durch unsere Gestaltung beeinflussen, aber nicht hundertprozentig bestimmen (Becker & Jaakola, 2020): Wir können zwar bestimmte Erlebnisse wahrscheinlicher machen, aber die individuelle Situation hat einen großen Einfluss auf mein Erleben und kann die äußeren Stimuli sogar „überstimmen“. Genau darin liegt aber auch eine Stärke von menschzentrierter Gestaltung, denn durch fortwährendes Untersuchen dieser subjektiven Situationen können wir auf individuelle Umstände immer besser reagieren.
Über diese allgemeinen Überlegungen zur Experience hinaus gilt es auch zu definieren, welche Art von Erlebnissen wir eigentlich meinen. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Begriffen, um Experience in unterschiedlichen Ausprägungen zu beschreiben. Oft gehen diese Begriffe auf unterschiedliche Traditionen von Forschung und Design zurück. Mein persönlicher Hintergrund liegt in der User Experience, kurz UX. UX ist ein sehr breites Konzept, um das ganzheitliche Nutzungserlebnis erfassen zu können:
user's perceptions and responses that result from the use and/or anticipated use of a system, product or service
Definition von User Experience (ISO 9241-210: 2019)
In der Wirtschaftswissenschaft gibt es einige weitere Begriffe, beispielsweise Customer Experience (CX) und Brand Experience (BX). Die Wissenschaftler Larissa Becker und Elina Jaakola (2020, 637; kursiv im Original) definieren Customer Experience als „non-deliberate, spontaneous responses and reactions to particular stimuli“ (übersetzt als „unbewusste, spontane Antworten und Reaktionen auf bestimmte Reize“). Verschiedene Autoren heben hervor, dass Customer Experience sehr unterschiedliche Dimensionen umfasst, etwa emotionale, kognitive, sensorische und verhaltensmäßige Aspekte (Verhoef et al., 2009) – ganz ähnlich, wie es auch für UX gilt. Brand Experience konzentriert sich auf die ganzheitliche Wirkung von Marken (Brakus, Schmitt, & Zarantonello, 2009) und kann definiert werden als „a combination of memorable, subjective esoteric impressions varying in polarity and amplitude, in humans, triggered from brand interactions, which occur at various stages of contact with a brand“ (übersetzt als „eine Kombination erinnerungswürdiger, subjektiver Eindrücke unterschiedlicher Polarität und Amplitude, die beim Menschen durch Interaktionen mit der Marke ausgelöst werden und in verschiedenen Phasen des Kontakts mit einer Marke auftreten“; Chevtchouk et al., 2021, 1304). Andere Kandidaten von Experiences beziehen sich beispielsweise gezielt auf das Erleben von digitalen Inhalten (Digital Experience) oder Services (Service Experience; Chevtchouk et al., 2021).
Alle diese Begriffe können uns helfen zu definieren, worüber wir in einem bestimmten Zusammenhang sprechen. Aber natürlich haben alle Begriffe ihre Grenzen. User Experience und Customer Experience konzentrieren sich auf die Personen, die etwas erleben – aber es gibt natürlich auch andere Gruppen zu beachten, etwa die eigene Belegschaft oder Personen, die von Verhaltensweisen anderer betroffen sind. Mein Smartphone beeinflusst zum Beispiel nicht nur mich selbst, sondern auch Personen, die neben mir im Bus sitzen, während ich damit telefoniere. Vielleicht müssten wir also von Human Experience sprechen, wie es einige Wissenschaftler tun (Fisk et al., 2020). Aber auch dann gilt es die nicht-menschlichen Lebewesen zu beachten, zum Beispiel in Form der Auswirkungen von Technologie auf die Umwelt.
Digitale Experiences
Im Digitalen sind Experiences besonders wichtig, weswegen ich sie im Zentrum von digitalen Strategien sehe. Ich sehe dafür vier zentrale Gründe.
- Erlebnisse werden zu zentralen Unterscheidungskriterien. Technologische Fortschritte lassen Zugangshürden für Unternehmen zunehmend schwinden. Digitale Produkte und Services können in relativ kurzer Zeit programmiert werden. Auch physische Produkte sind zunehmend kopierbar, etwa durch 3D-Druck oder Mikrocontroller. Globalisierung und Digitalisierung erlauben es, Angebote stärker und schneller zu skalieren oder in neue Märkte vorzudringen. Selbst ein Wissensvorsprung ist durch die weltweite und ständige Verfügbarkeit von Informationen schnell aufgebraucht. Aus diesen Gründen wird die Erlebnisqualität zu einem Unterscheidungsmerkmal, mit dem sich Unternehmen von anderen abheben können. Eine positive Nutzungserfahrung trägt außerdem dazu bei, Kundinnen und Kunden an ein Angebot zu binden – und das ist wesentlich günstiger, als Neukunden zu akquirieren.
- Digitale Erinnerungshilfen konservieren unsere Interaktionen mit Produkten, Services und Unternehmen. Erinnerungen sind ein fester Bestandteil von Erlebnissen. Je wichtiger ein Erlebnis für uns ist, desto besser prägt es sich uns ein. Auch Orte, Personen und Gegenstände sind mit unseren Erinnerungen verbunden und haben daher oft einen emotionalen Wert für uns – beispielsweise die Eintrittskarte zu einem Konzert, die wir uns an eine Pinnwand in unserer Wohnung hängen. Die ständige Verfügbarkeit von digitalen Technologien hebt diese Erinnerungskultur auf eine neue Ebene. Smartphones erlauben uns, Fotos in jeder Situation zu machen, und mobile Betriebssysteme erzeugen automatisch Rückblicke aus diesen Fotos. Social Networks protokollieren unsere sozialen Interaktionen. Digitale Services erzeugen Nutzungsprotokolle, mit deren Hilfe wir uns unsere Erlebnisse vor Augen führen können. Zugleich erlaubt uns die Vielzahl an gesammelten Daten, Nutzerinnen und Nutzer besser zu verstehen und positive Erlebnisse gezielt zu gestalten (Newman & Blanchard, 2016).
- Die soziale Dimension von Erlebnissen wird stärker. Menschen sind soziale Wesen und teilen ihre Erlebnisse mit Freundinnen oder Freunden. Das ist durch digitale Technologien in den vergangenen Jahren immer einfacher geworden. Oft teilen wir unsere Erlebnisse auch öffentlich über Social Media. Die individuellen Erlebnisse von Kundinnen und Kunden können also eine große Reichweite erhalten und werden für Unternehmen und Institutionen immer wichtiger. Empfehlungsmarketing setzt hier sogar explizit an und regt Kundinnen und Kunden explizit dazu an, öffentlich über ihre Erlebnisse zu sprechen.
- Erlebnisse werden mehr und mehr personalisiert. Erlebnisse sind seit jeher persönlich – wie ich etwas erlebe unterscheidet sich davon, wie jemand anderes dieselbe Situation erlebt. Digitale Technologien machen Erlebnisse noch individueller. Zahlreiche Facetten von digitalen Produkten und Services lassen sich individuell anpassen, beispielsweise Fenstergrößen, Design-Einstellungen (etwa Dark Mode) oder das Ausgabeformat (etwa Sprachausgabe von Texten). Nutzungssituationen unterscheiden sich immer stärker, etwa wenn wir Inhalte auf dem Smartphone konsumieren, pausieren und später auf einem anderen Gerät fortfahren. Auch breitere Entwicklungen der modernen Gesellschaft tragen zur Individualisierung von Experience bei. Beispielsweise nimmt die Diversität in der Gesellschaft zu und erfordert persönlichere Herangehensweisen in der Gestaltung, wenn grobe Einteilungen von Menschen auf Basis allgemeiner demographischer Merkmale nicht mehr ausreichen. Unternehmen und Institutionen benötigen daher Herangehensweisen, die es ihnen erlauben, die individuelle Dimension von Erlebnissen zu erfassen und aktiv zu gestalten.
Wenn also Erlebnisse an Bedeutung gewinnen, sollten Unternehmen und Institutionen proaktiv werden: Es geht darum, Erlebnisse aktiv zu gestalten und fortwährend zu verbessern.
Drei Vorteile von Experiences für Unternehmen und Institutionen
Vorteil 1: Erlebnisse richten den Blick auf Menschen
Experience richtet unseren Blick auf das, was zählt: die Menschen. Denn es sind letztlich die menschlichen Erfahrungen mit Technologien, die über Erfolg und Misserfolg von digitalen Produkten und Services entscheiden.
It is certainly important that designers know how to create visual symbols for communication and how to construct physical artifacts, but unless these become part of the living experience of human beings, sustaining them in the performance of their own actions and experiences, visual symbols and things have no value or significant meaning.
Richard Buchanan (2001, 11)
Experience kann Empathie schaffen, also die Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen – in der Experience Economy wird das zu einem echten Wettbewerbsvorteil, der unternehmerische Werte erschafft. Sehr gut lässt das mit partizipativen Methoden vereinen, etwa im Bereich des Co-Designs. Das erlaubt es Menschen, Produkte und Services aktiv mitzugestalten, und erhöht die Chancen auf positive Erlebnisse.
Vorteil 2: Erleben ist ganzheitlich
Wenn wir uns auf Produkte und Services konzentrieren, denken wir oft in Funktionen. Erlebnisse gehen jedoch über das rein Funktionale hinaus. Ein Produkt oder ein Service muss nicht nur irgendwie funktionieren, sondern beeinflusst unser Erleben in mannigfaltiger Art und Weise. Eine Gestaltung hinterlässt einen gewissen ästhetischen Eindruck: beispielsweise wenn wir uns über die elegante Gestaltung einer Website freuen. Eine Funktion erzeugt eine emotionale Reaktion: beispielsweise wenn uns ein umständliches Interaktionsdesign frustriert. Und ein Service erhält eine persönliche Bedeutung, weil wir mit seiner Hilfe etwas erreichen können, das uns am Herzen liegt: beispielsweise, wenn ich mein Wissen dank YouTube mit anderen teilen kann. Es gibt also unzählige Beispiele dafür, dass Erleben nicht nur funktional ist, sondern ganzheitlich in all seinen Dimensionen betrachtet werden sollte. An dieser Stelle setzt Experience mit einem ganzheitlichen Ansatz an. Menschzentrierte Gestaltung identifiziert nicht nur, welche Funktionen Menschen möchten, sondern untersucht auch emotionale und ästhetische Aspekte oder tiefergehende Bedürfnisse von Menschen.
Vorteil 3: Experience lohnt sich
Größere Loyalität, Akzeptanz von neuen Technologien, häufigere Weiterempfehlungen – es gibt viele gute Gründe für die bewusste Gestaltung von positiver Experience. Mehrere Studien bestätigen deren Wert für Unternehmen und Institutionen:
- Der Aktienindex von Unternehmen mit einem starken Fokus auf menschzentrierter Gestaltung liegt nach einer Studie des Design Management Institute (2014) um 228% höher als der Aktienindex der S&P 500. Auch eine McKinsey-Studie von 2018 berichtet von starken Korrelationen zwischen Design und Geschäftskennzahlen. Die Studie hat vier zentrale Kernaspekte identifiziert, um Design möglichst gewinnbringend in die eigenen Geschäftsprozesse zu etablieren: (1) Design-Performance mit geeigneten Kennzahlen analysieren, (2) menschzentrierte Gestaltung im gesamten Unternehmen verankern, (3) kontinuierliche Iterationen mit Nutzerinnen und Nutzern etablieren und (4) die Experience in den Blick nehmen statt nur auf Produkte und Services zu schauen.
- Gute Experience und menschzentrierte Gestaltung verringeren die Support-Kosten. Mozilla konnte durch ein Redesign der Support-Website 70% der Anfragen reduzieren und die Support-Abteilung signifikant entlasten. Zugleich erlaubte diese Optimierung, einen höheren Anteil von Anfragen innerhalb von 24 Stunden beantworten zu können, und damit die Experience weiter zu verbessern.
- Ein Fokus auf Experience kann das Risiko in der Entwicklung von Produkten und Services verringern. Nach Schätzungen werden bis zu 15 % der IT-Projekte eingestampft, und etwa die Hälfte der Entwicklungszeit wird für Überarbeitungen vorheriger Arbeit eingesetzt (Charette 2005).
- Gute Experience erhöht die Zahlungsbereitschaft um 14,4 %, verringert die Wechselbereitschaft zu einer anderen Marke um 15,8 % und vergrößert die Weiterempfehlungswahrscheinlichkeit um 16,6 %, wie Forrester Research (Beitrag in Fast Company) berichtet.
Die Einbettung von Experience in die Geschäftsprozesse kann dabei verschiedene Formen annehmen, die mit UX-Reifegrad-Modellen beschrieben werden können. Experience kann Vorteile in einzelnen Projekten bieten, aber auch strategische Geschäftsprozesse beeinflussen. Für viele (insbesondere mittelständische) Unternehmen und andere Organisationen wird es daher eine der zentralen Aufgaben der nächsten Jahre sein, menschzentrierte Gestaltung in den eigenen Prozessen zu etablieren, um den Anschluss nicht zu verlieren.
Nicht nur Erlebnisse, sondern die Zukunft gestalten
Erlebnisse werden also immer wichtiger und können für Unternehmen echte Business-Vorteile bedeuten (Solis, 2015). Aber Design und Experience können auch strategisch werden und sich mit der Gestaltung ganzer Systeme beschäftigen (Buchanan, 2015; Rye, 2018). Dazu gehören Organisationen, Unternehmen, Institutionen oder auch Umwelt und Gesellschaft allgemein. Es lohnt sich, auch diese Ebene mit einem Blick auf Experience zu gestalten. Dafür gibt es einige Gründe.
Erstens erzeugen nicht nur unsere digitalen Produkte und Services Erlebnisse, sondern jedes Ereignis, mit denen Menschen mit einer Institution in Berührung kommen, also auch beispielsweise ein Telefonat mit einem Service-Mitarbeiter. Es ist also durchaus sinnvoll, Experience größer zu denken als Produkte oder Services: Wie können wir unsere gesamte Organisation darauf hin ausrichten, dass sie positive Erlebnisse erzeugt? Eine derart umfassende Betrachtung von Experience ist für Unternehmen und Organisationen kennzeichnend, die den höchsten UX-Reifegrad erreicht haben. Nicht zuletzt deshalb heben zahlreiche Management-Theorien die Bedeutung von Design hervor (Buchanan, 2015).
Zweitens sind Menschen in komplexe soziale Systeme eingebunden. Das bedeutet, dass wir nicht nur auf eine isolierte Personengruppe schauen dürfen – und ja, auch nicht nur auf unsere Nutzerinnen oder Kunden. Wir müssen jede Person berücksichtigen, die innerhalb des sozialen Systems von unseren Gestaltungen betroffen ist. Ethik spielt hier eine sehr große Rolle: Als Designerinnen und Designer müssen wir uns bewusst machen, was unsere Produkte und Services bewirken. Dabei sollten wir über die Grenzen hinausschauen. Was ist zum Beispiel, wenn eine Funktion eine positive Experience für einen Teil der Anwenderinnen und Anwender schafft, aber eine negative Experience für andere Menschen – beispielsweise, wenn ein Service die Customer Experience durch immer kürzere Lieferzeiten optimiert, aber dadurch immer schlechtere Arbeitsbedingungen in den Lieferdiensten schafft? Wir brauchen daher einen Blick aufs Ganze, der alle Menschen und das Ökosystem einbezieht. Dieser Blick aufs Ganze und seine ethischen Folgen werden seit einigen Monaten unter dem Begriff des „Society Centered Design“ diskutiert.
Drittens gibt es unterschiedliche zeitliche Dimensionen, die bei Experience im Blick behalten werden sollten – und sie können durchaus miteinander in Konflikt stehen. So gibt es antizipiertes Erleben (vor der Interaktion), momentanes Erleben (während der Interaktion), episodisches Erleben (nach der Interaktion) und kumuliertes Erleben (über eine längere Zeit), und diese Ebenen können miteinander in komplexen Beziehungen stehen. Sollte mir ein smarter Haushaltshelfer einen Kaffee oder einen Energydrink geben, obwohl seine gesammelten Daten darauf hinweisen, dass mein Konsum zu hoch ist und in einigen Jahren zu gesundheitlichen Problemen führen könnte? Andererseits: Darf eben jener smarte Haushaltshelfer mich in meiner freien Entscheidung einschränken? Und wie kommt der smarte Haushaltshelfer eigentlich zu seiner Entscheidung – und woher wissen wir, dass sich in seiner Entscheidung keine ungewünschten Effekte einstellen, etwa weil seine Trainingsdaten Vorurteile unterstützen? Es gehört also fest zur menschzentrierten Gestaltung, diese unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen zu berücksichtigen, denn menschzentrierte Gestaltung ist per se auf die Gestaltung von Zukunft ausgerichtet. Das mag im kleinen Rahmen ein digitales Produkt sein, lange bevor eine Zeile Code geschrieben ist. Es kann sich aber auch um größere Fragestellungen drehen. In Workshops können Menschen gemeinsam Ideen für drängende Herausforderungen finden – seien es zukünftige Formen der Zusammenarbeit, menschenfreundliche Städte, lokalpolitische Entscheidungen oder die Schulbildung der Zukunft. Dabei geht es auch um zukünftige Generationen, nicht-menschlichen Lebewesen oder die Umwelt als Ganzes.
Viertens denke ich, wir sollten darüber nachdenken, wo die Grenzen von menschzentrierter Gestaltung liegen. Um über meine Erlebnisse zu sprechen, muss mir das Geschehen bewusst sein. Was ist aber mit Aspekten, die uns Menschen nicht bewusst sind (und die sich deshalb auch nicht in ihrem Erleben wiederfinden, oder wenigstens nicht in ihren Beschreibungen ihres Erlebens)? Vielleicht helfen uns etablierte Methoden aus dem User-Experience-Design, diese Aspekte nicht zu übersehen – vorausgesetzt, wir wenden sie breit genug an. Ein Beispiel dafür könnte sein, Personas nicht nur auf die expliziten Zielgruppen anzuwenden, sondern auch nicht-menschliche Personas oder Umwelt-Personas zu erstellen. Solche und andere Maßnahmen können uns helfen, die Grenzen von Experience auszuloten.
Fazit: Experience ist wichtig
Seit etwa zwei Jahrzehnten wird das Erleben der Menschen für Unternehmen und Institutionen immer wichtiger, insbesondere im digitalen Kontext. Experience nimmt dabei den Menschen in den Blick, erlaubt eine holistische Betrachtung, und Experience lohnt sich. Für Unternehmen und Institutionen lohnt es sich also, die Experience mit ihren Angeboten ins Zentrum zu stellen. Wir können aber noch einen Schritt weitergehen und nicht nur für Experience gestalten, sondern unsere Organisationen und damit auch unsere Zukunft gestalten.